Kapitel 3
Impulse und Veränderungen
In Berlin tauchte im Herbst 1882 ein Mann namens Friedrich von Schlümbach auf. Er stammte aus einer geadelten Offiziersfamilie aus dem Württembergischen und hatte mit nur 17 Jahren seine Militärausbildung abgebrochen, seine Familie verlassen, nachdem er sich durch umtriebiges Verhalten mit seinem Vater überworfen hatte, und war nach Amerika gegangen, Dort hatte er sich mit harten Jobs irgendwie über Wasser gehalten für so wenig Geld, dass es gerade zum Leben reichte. Sich jemals wieder eine Schiffspassage nach Europa leisten zu können, war denkbar unrealistisch. Aber er passte sich an seine Lebensumstände an und fand durch seine freundschaftliche und witzige Art schnell Freunde und zahlreiche Bekannte. Als dann der Bürgerkrieg in Amerika ausbrach, war es ihm wie eine Fügung, denn das Soldatenleben kannte er ja. Er ließ sich für die Nordstaaten anwerben und brachte es schnell zum Captain. Als er in einer Schlacht schwer verwundet wurde und dachte, sterben zu müssen, rief er in all seiner Not zum ersten Mal seit seiner Kindheit wieder zu Gott. Aber als es mit ihm gesundheitlich wieder bergauf ging, hatte er diese Hinwendung zu Gott bald wieder vergessen. Und er begann, sich als unterhaltender Spötter der Christenheit in Amerika einen Namen zu machen.
Aber Gott vergaß ihn nicht.
Aus reiner Höflichkeit begleitete von Schlümbach einige Zeit nach dem Krieg seinen ehemaligen General und dessen Frau zu einem Gottesdienst. Die Lieder sprachen ihn sofort an, in erster Linie natürlich die schwungvollen Melodien. Singen bereitete ihm ohnehin viel Vergnügen und er war versucht, mitzusummen.
Anschließend lud ihn das Generalsehepaar noch zu einer abendlichen Tasse Tee ein und bei einem ruhigen Gespräch über Gott und die Welt verstand Friedrich von Schlümbach plötzlich, dass auch der größte Rebell gegen Gott nicht verloren gehen muss, weil alle Schuld vergeben werden kann durch Gottes unbegreifliche Liebe zu seinen Menschen. Das änderte alles und kehrte den Gottesleugner total um. Nun konnte nicht anders – er wollte allen von Jesus erzählen! Mitreißend und voller Leidenschaft tat er es so mitreißend wie er zuvor gegen Gott gesprochen hatte, und alte Freunde und Arbeitskollegen staunten nicht schlecht, aber natürlich musste er sich auch viel Verachtung und Spott von ihnen anhören.
Bald begann für ihn auch beruflich eine neue Zeit. 1878 begann er mit großer Leidenschaft hauptamtlich beim CVJM, dem christlichen Verein jünger Männer (= YMCA, engl.), zu arbeiten. Dieser Verein hatte es sich zur Aufgabe gemacht, den jungen Menschen alles mitzugeben, was sie im Leben brauchen konnten. So gab es Unterricht in Fremdsprachen, Stenographiekurse und Vieles mehr. Sehr beliebt waren auch die regelmäßigen Sportveranstaltungen für Jugendliche und junge Leute. Das Wichtigste war aber, dass hier der lebendige Glaube an Jesus gelebt und vorgelebt wurde.
Auf einer internationalen Jugendleiterkonferenz in London kam Friedrich von Schlümbach schließlich wieder in Kontakt mit dem Land seiner Kindheit – und wurde dringend nach Deutschland gebeten, vor allem nach Berlin. Domprediger Adolf Stöcker und Pfarrer Ludwig Diestelkamp, der für den Kirchenbezirk „Nazarethkirche“ im Wedding zuständig war, hatten ihn eingeladen.
Da war er also nun in Berlin.
Der inzwischen 40jährige Deutsch-Amerikaner war eine charismatische Erscheinung mit einer wunderbaren Stimme. Abend für Abend verkündigte er das Evangelium in Tanzsälen und Kneipen. Er sprach nicht langweilig und pastoral, nein, leidenschaftlich war er und dabei humorvoll, lebensnah und klar. Die Menschen merkten, dass er hinter den biblischen Aussagen stand, dass er glaubte, was er verkündete und dass er wusste, wovon er sprach. Seine Erlebnisse und Erfahrungen waren interessant und sprachen Viele an. Dass er aus dem fernen Amerika gekommen war, machte ihn umso interessanter. Und dann sang er auch noch mit voller Stimme. Seine Veranstaltungen sprachen sich in Berlin herum. Alle wollten ihn sehen und hören, auch diejenigen, die schon längst mit Glauben und Christen nichts mehr am Hut hatten.
Der schnell bekannt gewordene „Fritz Schlümbach“ trat immer nur für eine begrenzte Zeit (8-14 Tage) an einem Veranstaltungsort auf. Dazu eingeladen wurde nicht wie sonst üblich per Zeitungsannonce oder Litfass-säulenaushang, sondern mit Terminkarten, die nur in den anliegenden Straßen des Veranstaltungsortes in die Haushalte verteilt wurden. Es waren also fast persönliche Einladungen. Allerdings sprach es sich immer schnell herum, wo Schlümbach auftreten würde und Abend für Abend wurden es mehr Zuhörer: Erst waren es 200, dann 500, bald 1000 und mehr! Zuletzt wurde ein Saal gemietet, der Platz für 1500 Menschen bot. (Wahrscheinlich handelt es sich dabei um den großen Restaurantsaal der Schultheiss Brauerei, die 1857 auf dem ehemaligen Tivoligelände auf dem Kreuzberg errichtet worden war.)
Auch Eduard Graf von Pückler besuchte still und unauffällig manche der abendlichen Versammlungen, obwohl er gerade kurz vor seiner zweiten juristischen Staatsprüfung stand und zeitlich recht eingespannt war. Aber sein Interesse war groß und bereits nach dem ersten Abend war er begeistert von der Art und Weise wie Friedrich von Schlümbach auftrat und wie er seiner Zuhörerschaft begegnete. Seine authentische, zugewandte und geistreiche Art tat seinen Zuhörern, vornehmlich Weddinger Arbeitern, gut. Sie nannten ihn erst spöttisch und dann fast liebevoll den „Troubadour der Frömmigkeit“.
Nach 3 Monaten war im Wedding eine Bewegung entstanden. Viele Menschen hatten eine Umkehr zu Gott erlebt (was nicht gleichbedeutend war mit einer Umkehr zur Kirche).
Und unbemerkt war der junge Graf auch nicht geblieben. Zwischen ihm und dem von den Berlinern umjubelten Deutsch-Amerikaner entstand eine Freundschaft, in der der um 11 Jahre ältere Friedrich von Schlümbach dem Jüngeren in manchen Fragen auch zum Mentor wurde.
So verschieden die Männer auch waren, Friedrich von Schlümbach und Eduard von Pückler hatten eines gemeinsam: Ihren war an einem Punkt ihres Lebens Jesus Christus, der Sohn Gottes, konkurrenzlos wichtig geworden und sie wollten nach Gottes Plan leben und die Welt durch seine Augen sehen.
Sowohl Pfarrer Diestelkamp als auch Graf von Pückler und viele weitere Unterstützer Schlümbachs spürten, dass die Bewegung, die Schlümbach angestoßen hatte, weiter-geführt werden musste – auch ohne den überall so bekanntgewordenen „Troubadour der Frömmigkeit“, der inzwischen plante, Berlin wieder zu verlassen, um nach Amerika zurückzureisen.
Als das Jahr 1882 zu Ende ging, vertraute Friedrich von Schlümbach Eduard von Pückler ein großes Projekt an: Er, der gerade 29 Jahre alte Graf, sollte sich um die gläubig gewordenen Menschen im Berliner Norden kümmern und sie in ihrem Glaubensleben stärken. Eduard Graf von Pückler spürte die große Verantwortung und er fühlte sich der Aufgabe überhaupt nicht gewachsen. Wenn er Theologie studierte hätte, dann vielleicht, aber so? Konnte er ohne theologische Ausbildung diese Aufgabe überhaupt guten Gewissens übernehmen? Er nahm seine Bedenken mit in den Weihnachtsurlaub nach Rogau. Und von dort schrieb er an seinen Mentor nach Berlin und legte ihm seine Bedenken dar. Schlümbachs Antwort kam prompt: Er schrieb ihm, dass Gott gerade die „ganz normalen“ Christen gebrauchen wollte, dafür gäbe es in der Bibel, vor allem in der Apostelgeschichte, unendlich viele Beispiele. Christliche Tätigkeiten und fromme Worte am Sonntag von der Kanzel reichten nicht aus. Sie müssten lebendig sein und mitten unter dem Volk. Die Voraussetzung dafür sei kein Theologiestudium, sondern einfach, Christus zu lieben und die eigene Bibel zu studieren.Nach Weihnachten war die Sache klar; Graf Pückler hatte einen Entschluss gefasst und sich berufen lassen.
Bevor Schlümbach den Wedding verließ, bildete sich ein kleines Komitee, das die Aufgabe hatte, die Menschen, die zum Glauben gekommen waren, weiter zu betreuen. Dieses Komitee bestand aus Pastor Schlümbach, Pfarrer Diestelkamp und dem jungen adligen Gerichtsassessor (ja, seine Prüfung hatte er vor Weihnachten 1882 bestanden!) namens Eduard Graf von Pückler.
Auch Eberhard von Rothkirch, Pücklers alter Schulfreund aus Liegnitz, lebte inzwischen in Berlin und auch er erhielt von Schlümbach ein Amt: Er wurde der Leiter der neugegründeten CVJM-Arbeit in Berlin.
Wie schon in Amerika lag Friedrich von Schlümbach die Jugend am Herzen und so hatte er, wenige Wochen vor seiner Abreise aus Berlin, den CVJM Berlin ins Leben gerufen und in die Hände von Rothkirchs gelegt. Graf von Pückler gehörte ebenfalls zu den Mitbegründern des CVJM Berlin.
Kapitel 4 – Die Arbeit beginnt
Kapitel 5 – Das Werk & sein Name
Kapitel 6 – CVJM & St. Michael
Kapitel 7 – Frauen in St. Michael
Kapitel 8 – Eine neue Ära
Kapitel 9 – schwierige Zeiten
Kapitel 10 – Pücklers Vermächtnis